Bahn frei auf dem Semmering
Wer mit der echten Semmeringbahn fahren will, muss in die Wiener Alpen reisen.
Sie bietet grandiose Ausblicke, ist Welterbe und kann auf zwei Arten erlebt werden.
Text und Fotos von Steffen Klameth für die Sächsische Zeitung (8./9. Juli 2023)
Als ich noch ein kleiner Junge war, gehörte die Fahrt mit der Semmeringbahn von Bad Schandau nach Sebnitz zu meinen schönsten Ferienerlebnissen. Bis man mich irgendwann aufklärte, dass die echte Semmeringbahn die ehemalige Windbergbahn sei, eine längst stillgelegte Trasse von Dresden-Coschütz nach Freital. Dann kam die Wende, und ich musste mein Weltbild noch einmal revidieren. Die Semmeringbahn fährt am Semmering”, sagt Horst Schröttner, und der Semmering ist hier.
Hier, das ist eine Passhöhe in den Wiener Alpen, an der Grenze von Niederösterreich zur Steiermark, knapp 1.000 Meter hoch. Semmering heißt auch die nahegelegene Gemeinde mit rund 500 Einwohnern und mehr als doppelt so vielen Zweitwohnungsbesitzern. Und Horst Schröttner, “das ist quasi der Semmering”, sagt man beim Tourismusverband. Der 83-Jährige ist in Semmering geboren, saß 50 Jahre im Gemeinderat und regierte das Dorf 15 Jahre lang als Bürgermeister.
Da ist Widerspruch natürlich zwecklos, insbesondere, was die Semmeringbahn angeht. Die Fakten sind einfach auf seiner Seite:
1854 wurde die Bahnstrecke feierlich eingeweiht. als erste Gebirgsbahn auf Normalspur in ganz Europa. Es war eine Sensation zu jener Zeit, denn der Pass erschien für eine Eisenbahn unüberwindbar. Wie soll sie die steilen Berge umkurven? Wie die tiefen Schluchten überwinden? Und vor allem: Welche Lok soll solche Steigungen schaffen?
Der Mathematiker und Architekt Carl Ghega machte das Unmögliche möglich. Er unternahm Studienreisen nach England und Nordamerika, beschäftigte sich mit dem Lokomotivbau und präsentierte 1844 schließlich seine Pläne für die Semmeringbahn. Sie war faktisch ein Lückenschluss: Wer damals mit dem Zug von Wien nach Süden fuhr, musste in Gloggnitz aussteigen, passierte mit Kutsche oder Pferdewagen den Semmeringpass und gelangte so nach Mürzzuschlag in der Steiermark, wo bereits der Zug nach Triest wartete.
Ghega´s Pläne wurden von vielen Experten belächelt und angezweifelt. Bis im Jahre 1848 Arbeiterunruhen die Monarchie erschütterten. „Es mussten auf einen Schlag Tausende Arbeiter beschäftigt werden”, erzählt Horst Schröttner bei einem Rundgang durch den Bahnhof Semmering, der ein kleines Museum beherbergt.
Dann ging alles ganz schnell. An 14 Abschnitten wurde gleichzeitig gebaut, bis zu 20.000 Menschen waren daran beteiligt, darunter viele Frauen und auch Kinder. Bereits sechs Jahre später war das Werk vollbracht. 41Kilometer Bahntrasse, 15 Tunnel, 16 Viadukte – eine technische und organisatorische Meisterleistung.
Die Unesco erklärte die Semmeringbahn 1998 zum Welterbe der Menschheit. Wer die Semmeringbahn erleben möchte, hat zwei Möglichkeiten. Die erste, na klar, ist die Fahrt mit dem Zug. Die zweite – und vielleicht noch eindrucksvollere – ist eine Tour zu Fuß entlang des Bahnwanderwegs. Er folgt der Trasse und bietet ständig neue und überraschende Perspektiven.
Er folgt der Trasse und bietet ständig neue und überraschende Perspektiven. Den schönsten und berühmtesten Blick hat man zweifellos vom Wolfsbergkogel. Von hier sieht das Ganze aus wie eine Modelleisenbahn:
die Viadukte über die Kalte Rinne und die Krauselklause, die Pollerus- und die Schießwand. Und dahinter Rax und Schneeberg. Beinahe zu kitschig, um wahr zu sein.
Der Ausblick ist nicht zu verfehlen. Auf Wegweisem heißt er 20-Schilling Blick – weil das Motiv einst die 20-SchilIing-Banknote zierte. Allerdings zeigt der Geldschein nur einen kleinen Ausschnitt.
Und von einem anderen Standort”, verrät Schröttner. Gut möglich, dass sich der Zeichner auch etwas künstlerische Freiheit genehmigte. Egal: Zurzeit ist das Viadukt über die Kalte Rinne wegen Sanie rungsarbeiten ohnehin eingerüstet – und die Talstraße hinter lauter Bäumen verschwunden. “Das müssen wir wieder freischneiden”, sagt der Alt-Bürgermeister.
Schröttner engagiert sich als Obmann eines Vereins, der den Welterbetitel bewahren will. “Den Titel finden alle gut”, sagt er, “aber was da dranhängt, sieht nicht jeder.” Viel Bürokratie beispielsweise, alle fünf Jahre müssen mehrere hundert Fragen in einem Monitoring beantwortet werden. Und viel Handarbeit: GeIänder, Beschilderung, Aussichtspunkte.
„Dort müssen wir auch wieder freischneiden”, sagt er und zeigt auf die Galerie an der Weinzettelwand. „Und dort”, er weist zum Krausel – Klause-Viadukt. “Man nenne ihn den Baummörder,” sagt Schröttner, und es klingt, als sei er sogar ein bisschen stolz darauf.
Als die Bahnstrecke eingeweiht wurde, lebten auf dem Semmering nur ein paar Bauern, und der Haltepunkt an der höchsten Stelle diente lediglich zum Wasserfassen für die Dampfloks. Bis sich bis in die Hauptstadt die Kunde vom „Hoch – Wien” herumsprach. Keine vier Stunden Zugfahrt entfernt. Unberührte Natur, bewaldete Berge, saubere Luft. 1882 eröffnete das Semmering-Hotel – später umbenannt in Südbahnhotel. „Es wurde nach dem Vorbild amerikanischer Bahnhotels errichtet und war mit allem Luxus jener Zeit ausgestattet”, sagt Schröttner.
Als die Bahnstrecke eingeweiht wurde, lebten auf dem Semmering nur ein paar Bauern, und der Haltepunkt an der höchsten Stelle diente lediglich zum Wasserfassen für die Dampfloks. Bis sich bis in die Hauptstadt die Kunde vom „Hoch – Wien” herumsprach. Keine vier Stunden Zugfahrt entfernt. Unberührte Natur. bewaldete Berge, saubere Luft.1882 eröffnete das Semmering-Hotel – später umbenannt in Südbahnhotel. „Es wurde nach dem Vorbild amerikanischer Bahnhotels errichtet und war mit allem Luxus jener Zeit ausgestattet”. sagt Schröttner.
Weitere Hotels folgten, die Konkurrenz löste einen regelrechten Wettbewerb aus. Anbauten mit immer mehr Betten, Hallenbäder, Sandstrand, Golfplatz, Bobbahn-den Gästen wurde eine Menge geboten. Parallel schossen Villen wie Pilze aus dem Boden. Die Architekten kreierten dafür einen eigenen Stil mit Bruchsteinen im Erdgeschoss und viel Holz in den oberen Etagen. Nach der Jahrhundertwende kam der Jugendstil in Mode. Der Semmering entwickelte sich zum mondänen Treffpunkt der Prominenz. Das Prädikat als „Heilklimatischer Höhenkurort” lockte schließlich auch immer mehr Erholungssuchende an.
„Wir profitieren von einem besonderen Reizklima”, sagt Schröttner, „die Luftgüte wird immer noch regelmäßig kontrolliert.” Nur die Gäste, die kommen längst nicht mehr so zahlreich wie einst. Alle großen Hotels stehen heute leer, auch das Südbahnhotel. „1976 checkte der letzte Gast aus”, erzählt Gerald Hahnl. Er bietet Führungen an, vor allem die Fans von sogenannten Lost Places sind begeistert. Im Sommer wird das einstige Grand Hotel für Kulturveranstaltungen genutz.t Zurzeit zeigt Paulus Manker sein Erfolgsstück “Alma”. Das Hotel ist in Besitz einer Stiftung und soll 2025 wieder eröffnen, Schneller könnte es mit dem noch größeren Hotel Panhans gehen, das Investoren aus der Ukraine gehört.
Mehr Urlauber kämen letztlich auch der Semmeringbahn zugute. Eine entspanntere Anfahrt gibt es jedenfalls nicht. Dazu startet man am besten in Wiener Neustadt und verbindet das mit einem kleinen Stadtbummel. Wiener Neustadt ist übrigens kein Stadtteil von Wien, sondern eine eigenständige Gemeinde im Theresianischen IndustrievierteL. „Lange Zeit hieß sie nur Neustadt – bis es im Habsburger Kaiserreich so viele Neustadts gab, dass man zur besseren Unterscheidung das ,Wiener’ davorsetzte”, sagt EveIine Klein, Leiterin des Stadtmuseums.Die Stadt war als strategischer Posten gedacht und von einer dicken Mauer umgeben. Reste davon kann man noch heute besichtigen. Besonders eindrucksvoll sind die Kasematten, wo sich ein modernes Veranstaltungszentrum befindet. Innerhalb der Stadtmauern kann man sich kaum verlaufen, da die Straßen im rechten Winkel angeordnet sind. Wer mit wachem Blick durch die Stadt spaziert, wird an vielen Gebäuden die Buchstaben AEIOU finden – etwa im Dom, im Neukloster und an der Burg (die heute zur Militärakademie gehört). „Die Buchstaben waren das Motto von Friedrich III.”, erklärt Eveline Klein. Der österreichische Herzog und spätere römische Kaiser regierte das Reich im 15.Jahrhundert vor allem von Neustadt aus. Was die Kombination der fünf Vokale bedeutet – darüber zerbrechen sich die Historiker bis heute die Köpfe.